Empört euch!
Ende 2010 brachte Stéphane
Hessel, Widerstandskämpfer und Menschenrechtsaktivist (möge er in Frieden ruhen), sein Manifest
Indignez-Vous! Empört euch! heraus.
Mittlerweile wurde das knapp 30
Seiten lange Werk millionenfach in der ganzen Welt verkauft.1
Zu recht, wie ich finde.
Und ja, empört euch!
Das ist jetzt fast vier Jahre her
und wurde in der Presselandschaft damals breit und bräsig diskutiert, aber wie
so immer verpuffen Hypes so schnell wieder, wie sie gekommen sind.
Ich finde allerdings, dass Hessel
mit seiner Schrift nicht einfach nur auf der „Welle der Empörung“ mitgesurft
ist oder im Zuge des Arabischen Frühlings ein gutes
Veröffentlichungstiming hatte.
Ich finde, dass seine Worte den
Kern unseres neuen Zeitalters getroffen haben.
Dass wir uns in unserem
Wohlstandsleben durchaus mehr empören sollten.
Hessel war Mitglied der
Résistance, der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus in Frankreich
und 1948 Sekretär der Dritten Kommission der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Er war live dabei, als die
universellen Menschenrechte verfasst wurden.
Und er beschwor in seinem
Manifest die nachfolgenden Generationen, das Erbe der Résistance nicht ins
Nichts gleiten zu lassen und sich daran zu erinnern, warum die Menschenrechte
verfasst worden sind. Warum es gerade heutzutage wichtig ist, sich zu empören.
Nun ist Hessels Empörung (geboren
1917 in Berlin, 1924 ausgewandert nach Frankreich, Überlebender des KZ
Buchenwald, Menschenrechtsaktivist...) aus dem Zuge einer sehr klaren Bedrohung entstanden. Wir jüngeren
Generationen haben hier in Deutschland das Glück, nicht in einem Krieg zu leben, nicht Hunger und Not zu leiden
oder Angst vor Folter und Mord haben zu müssen.
Aber Hessel hat auch nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges nicht aufgehört, sich zu empören. In seiner
Schrift wünscht er jedem Menschen einen Grund zur Empörung.
Und Gründe gibt es eigentlich
genügend.
Gründe zur Empörung
Eine Kernaussage Hessels ist,
sich zu empören, wenn die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Und es ist auch einer der Gründe,
warum ich diesen Blog betreibe.
Ich empöre mich, weil ich in
einer besseren Welt für alle leben
möchte.
Empörung kann klein anfangen, zum
Beispiel damit, dass ich mich beschwere, wenn Freunde einen homophoben Spruch
ablassen und sich dabei witzig finden.
Das kann im größeren Stil sein,
in dem ich bei einer Demonstration, zum Beispiel für die Rechte von
Asylbewerbern, mitmache.
Grundlagen für Empörung?
Das statistische Bundesamt DESTATIS
erläutert in seinem Bericht von 2013, dass politische Interessengruppen und Parteien
an Mitgliedern verlieren. Das Engagement von Ehrenamt und in der Freizeit
bleibt jedoch beständig.3
Wir haben im Gegensatz zu anderen Ländern eine oft gar nicht mal so schlechte Wahlbeteiligung und auch Petitionen und
Volksbegehren existieren nicht nur als Randgruppe. Aber oft werden Demonstranten mit Randalierern oder Störenfrieden gleichgesetzt oder
das Anliegen wird belächelt und heruntergespielt. Bei Sachen, die uns persönlich betreffen, gehen wir auch mal auf die Straße, aber wenn es um Menschenrechte
anderer geht, bleiben viele von uns Beobachter?
Ich will damit ein Engagement für die eigene Sache (z.B. für Mindestlohn, gegen Atomkraft, gegen Überwachung...) überhaupt nicht herunterspielen.
Dieses Engagement ist genauso wichtig. Aber ich wünsche mir, dass man sich auch bewusst für andere Menschen einsetzt und dass dieses Engagement
ebenso wichtig wird.
In seinem Artikel „Aggressiver
Humanismus“4 rätselt Philipp Ruch (Zentrum für Politische Schönheit)5
darüber, dass die Demokratie anscheinend keine Menschenrechtler hervorruft. Der Artikel ist sehr lesenswert, auch, wenn ich Ruch nicht in allen Punkten zustimme.
Er appelliert daran, dass
Menschenrechtsorganisationen bitte nicht Verzweiflungstaten begehen müssten, um
endlich gehört zu werden. Dass wir in unserem heutigen Wohlstand alle Mittel
besitzen, um etwas zu verändern.
Und das ist der springende Punkt.
Runter vom Sofa und rein in die Empörung! Dabei muss man nicht gleich die ganze
Welt retten, sondern kann sich ruhig etwas suchen, für das man sich wirklich engagieren
möchte.
Unterzeichnet Petitionen, die euch wichtig sind (ich meine jetzt nicht Lanz absetzen oder so :P), geht auf
Demos, die sich für Menschenrechte einsetzen und bleibt immer, immer, immer
gewaltfrei. Tauscht euch mit Gleichgesinnten aus und diskutiert mit Leuten, die
anderer Meinung sind. Spendet dort, wo ihr mit gutem Gewissen spenden könnt.
Habt dabei immer die
Menschenrechte im Hinterkopf.
Stéphane Hessel appelliert an
uns alle, nicht die Gleichgültigkeit zu wählen, gegenüber der Empörung.
Empörung ruft Reaktionen hervor
und das soll sie auch! Wir brauchen Diskussionen mit Menschen, die nicht unserer Meinung sind, wenn wir
wirklich etwas verändern wollen.
Wir brauchen den Austausch, den
Anreiz, über etwas anderes als über unsere eigenen Ideen nachzudenken. Nur dann
kann sich in den Köpfen der Menschen etwas ändern. Ja, auch in unseren eigenen ;), denn man muss nicht immer Recht haben.
Und ja, das ist oft unbequem.
Beispiele der Empörung
Ich muss damit rechnen, dass eine
andere Meinung populärer ist als meine eigene. Dass Menschen sich über
Sachverhalte empören, die meiner Meinung nach bereits zur Einhaltung der
Menschenrechte beitragen.
Beispiel: Einige Franzosen gehen gegen die Gleichstellung der Ehe für homosexuelle
Paare auf die Straße5
Zuletzt demonstrierten Anfang Februar 2014
knapp 80.000 Franzosen lautstark gegen ein bereits abgesegnetes Gesetz, das
seit Mai 2013 die Gleichstellung der Ehe für homosexuelle Paare und ein
Adoptionsrecht im französischen Gesetz verankert.7
Menschenrechtler weltweit jubelten
und doch sind nicht alle Franzosen damit glücklich, viele sind empört.
Da die Demonstrationen gegen das
Gesetz im letzten Jahr regelmäßig und zahlenmäßig hoch genug waren, kann man
sie nicht ignorieren. Aber man kann sich darüber empören. Man muss sogar
darüber reden. Die offensichtliche Angst vor Veränderung, vor der angeblichen
Abwertung der Familie, ist nicht nur in Frankreich ein hitzig diskutiertes
Thema.
Meiner Meinung nach kann es
einfach nicht angehen, dass die Gleichberechtigung für die einen (in diesem
Fall gleichgeschlechtliche Paare) als Bedrohung für die anderen (in diesem Fall
die französische Familie) gesehen wird.
Und ja, wir sollten uns darüber
empören, dass Menschenrechte anscheinend immer nur für einige wenige gelten
sollen und nicht für alle. Oder nur
dann, wenn uns das Thema passt.
Das ist nur ein Beispiel für
Empörung, die in Engagement übergegangen ist und weitere Reaktionen hervorruft.
Meinungsfreiheit ist dazu da, dass sie genutzt wird. Und das ist tatsächlich
gut für eine Demokratie.
In der französischen Gesellschaft wird das Thema weiterhin heftig diskutiert. Es bleibt natürlich zu hoffen,
dass die französische Regierung keinen Rückzieher macht, wie es zum Beispiel in einigen US-amerikanischen Staaten der Fall war,
bis der Supreme Court DOMA (Defense of Marriage Act) kippte und so eine landesweite Grundlage für die Gleichberechtigung
von Schwulen und Lesben schaffte.8
Die Rufe und Aktionen für
Menschenrechte dürfen nie die
leisesten sein.
Empört euch, wenn Menschenrechte
mit Füßen getreten werden, werdet laut!
Es wird nicht besser, wenn man
nur daran glaubt, auch wenn eine positive Einstellung nicht schadet.
Gerade weil es uns so gut geht,
müssen wir uns empören.
Darüber, dass Menschen nicht
überall gleich behandelt werden, auch nicht in unserem Wohlstandsdeutschland.
Wir haben zum Beispiel noch kein Gesetz, dass homosexuellen Paare die gleichen
Rechte gibt, auch wenn wir auf gutem Wege dahin sind.
Darüber, dass Sinti und Roma überall an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, auch in Deutschland.
Darüber, dass Menschen immer noch ausgegrenzt und diskriminiert werden, sei es wegen ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung,
ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft.
Es gibt viele Gründe, laut zu werden und uns zu empören.
Seien wir also nicht mehr leise.
Empören wir uns!
Linkliste
1Stéphane Hessel: Empört euch! Ullstein-Verlag, Berlin 2011
2http://www.arte.tv/de/stephane-hessel-mit-95-jahren-gestorben/7353880,CmC=7353974.html
3https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/Datenreport2013Kap13.pdf?__blob=publicationFile
4http://moral-beauty.tumblr.com/post/77059255479/aggressiver-humanismus"
5http://www.politicalbeauty.de
6http://www.dw.de/proteste-gegen-familienpolitik-in-frankreich/a-17404108
7http://www.tagesschau.de/ausland/homo-ehe-frankreich104.html
8http://www.tagesschau.de/ausland/homoehe-usa102.html
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